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Sigmar Gabriel: "Die Alternative lautet Rot-Grün oder Schwarz-Gelb"
Welt Online: Bundespräsident Wulff hat sich für den Umgang mit seinem Privatkredit entschuldigt. Ist die Affäre damit beigelegt?
Sigmar Gabriel: Der Bundespräsident hat in seinem früheren Amt durch viele Äußerungen seinen moralischen Anspruch sehr klar formuliert. Sein Buch "Besser die Wahrheit" ist ein schönes Beispiel dafür. Daran muss er sich jetzt messen lassen. Ich halte es für falsch, dass Union und FDP darauf setzen, dass die Sache im Sande verläuft. Denn wenn die offenen Fragen nicht geklärt werden, wäre der Schaden für das Amt des Bundespräsidenten und für das Vertrauen in die Politik enorm: Unklarheiten, Halbwahrheiten sind der Nährboden für Misstrauen und Verdächtigungen. Christian Wulff (CDU) hat als Oppositionsführer im Landtag von Hannover, als niedersächsischer Ministerpräsident und als Bundespräsident mehrfach zu moralischen Fragen Stellung genommen. „Natürlich darf das Amt des Bundespräsidenten durch die aktuelle Diskussion nicht Schaden nehmen. Aber man muss klar sagen dürfen, dass schwarze Reisekassen in Nordrhein-Westfalen ein Verstoß gegen die dortige Landeshaushaltsordnung und die NRW-Verfassung sind. Ich bedauere, dass wir keinen unbefangenen Bundespräsidenten im Amt haben."(Januar 2000 in einem dpa-Gespräch zur Begründung seiner Rücktrittsforderung an Bundespräsident Johannes Rau wegen dessen Flugaffäre als SPD-Ministerpräsident in NRW) „Das Wort „Glogogate" geht seit Tagen durch Hannover. Hier liegt eine Verflechtung und Verfilzung vor, die dringend aufgeklärt werden muss." – „Was wir hier erleben, schadet nicht nur dem Ansehen der Politik, sondern berührt in ganz besonderer Weise auch die Würde eines hohen politischen Amtes." – „Herr Glogowski verliert seine Unabhängigkeit und damit seine politische Handlungsfähigkeit."(November 1999 über den niedersächsischen SPD-Ministerpräsidenten Gerhard Glogowski, der später über eine Affäre um unbezahlte Urlaube und gesponserte Hochzeitsfeiern stürzt) „Wenn sich bewahrheitet, dass die rot-grüne Bundesregierung unmittelbar vor dem Ende von (Bundeskanzler Gerhard) Schröders Amtszeit Gazprom eine Milliarden-Bürgschaft gewährt hat, haben wir es mit einem ausgesprochen ernsten Vorgang zu tun. Alle Umstände, die dazu geführt haben, müssen restlos aufgeklärt werden." – „Es muss der Anschein vermieden werden, dass es Interessenkollisionen gibt."(2006, als bekannt wurde, dass der Ex-Kanzler einen Posten bei Gazprom annehmen würde und eine Bürgschaft der Bundesregierung mit dem russischen Konzern noch während Schröders Amtszeit abgeschlossen wurde) „Vertrauen ist unersetzlich, es ist schwer zu erreichen, aber leicht zu zerstören. (...) Auf Vertrauen kommt es an. Wir müssen ehrlich miteinander und mit uns selbst sein."(August 2011 vor Wirtschafts-Nobelpreisträgern in Lindau) „Politik braucht Maßstäbe, die nicht aus dem politischen Handeln selber kommen. Politik braucht ethische Maßstäbe, die aus Überzeugungen kommen, die über den Tag hinausweisen."(September 2011 in Krakau) Quelle: dpa
Welt Online: Worum geht es jetzt noch?
Gabriel: Ein Ministerpräsident darf sein Amt nicht dazu nutzen, bessere Konditionen zu bekommen als andere. Es geht um die Frage, ob Christian Wulff gegen das niedersächsische Ministergesetz verstoßen hat. Das ist keine Lappalie. Und es geht darum, ob Herr Wulff der Öffentlichkeit die Wahrheit gesagt hat. Der Bundespräsident hat nur ein Instrument, und das ist sein Wort. Es wäre schlimm, wenn man seinem Wort nicht vertrauen könnte. Taktisches Verhalten und Bauernopfer wie die Entlassung seines Pressesprechers sind fehl am Platz.
Welt Online: Muss der Bundespräsident selbst zurücktreten?
Gabriel: Niemand in Deutschland kann sich den Rücktritt des Bundespräsidenten wünschen. Rückhaltlose Aufklärung soll nicht zum Rücktritt, sondern zu einer Rückkehr in eine angemessene und glaubwürdige Amtsführung führen. Es wäre verheerend und nahe an einer echten Staatskrise, wenn innerhalb von zwei Jahren zum zweiten Mal ein Bundespräsident zurückträte.
Welt Online: Versteht die ganze Geschichte nur, wer mit der besonderen Nähe von Politik und Wirtschaft in Niedersachsen vertraut ist? Das Ehepaar Geerkens gewährt einen Privatkredit, der Finanzunternehmer Maschmeyer zahlt Werbung für ein Wulff-Buch.
Gabriel: Herrn Maschmeyer steht es völlig frei, Werbung für ein politisches Buch zu machen oder zu finanzieren. Die Frage ist allein, ob Christian Wulff sich als Ministerpräsident an Recht und Gesetz gehalten hat. Dies muss vor allem im Niedersächsischen Landtag geklärt werden. Dass CDU und FDP das dort vermeiden, schadet dem Bundespräsidenten massiv.
Welt Online: Geht es nicht auch um Fragen des Stils?
Gabriel: Über Stilfragen lässt sich schlecht streiten, das muss sich jeder mit sich selbst ausmachen. Selten hat in Niedersachsen jemand den alten deutschen Beamtengrundsatz so häufig zitiert wie Christian Wulff. Der lautet: Meide jeden bösen Schein. Jeder darf übrigens Fehler machen. Auch ein Politiker. Aber die Art, wie man damit umgeht, muss in öffentlichen Ämtern besonders klar, eindeutig und glaubwürdig sein.
Welt Online: Worauf wollen Sie hinaus?
Gabriel: Es gibt in der Bevölkerung ein festes Bild von Politikern - ganz gleich, welcher Partei sie angehören: "Die da oben, wir hier unten." Ich höre es jeden Tag auf der Straße: "Typisch Politiker! Politik verdirbt den Charakter!" Die Menschen bekommen den Eindruck, dass Politiker sowieso machen, was sie wollen. Letztlich fühlen sich die Menschen immer ohnmächtiger gegenüber einer abgehobenen Politik. Dieses Gefühl der Ohnmacht ist der größte Gegner der Demokratie. Die Affäre Wulff berührt nicht nur die Glaubwürdigkeit des Bundespräsidenten. Sie trägt dazu bei, dass das Grundvertrauen in die Politik weiter abnimmt.
Welt Online: Und nun?
Gabriel: Um der Politikverdrossenheit zu begegnen, brauchen wir eine neue Ehrlichkeit. Wir müssen uns an unsere eigenen Regeln halten. Und manchmal müssen wir uns auch neue Regeln geben. Ich bin beispielsweise dafür, dass sämtliche Einkünfte von Politikern offengelegt werden. Die Bürgerinnen und Bürger haben ein Recht darauf zu wissen, wer ihre Abgeordneten bezahlt. Zweitens müssen wir uns viel mehr wehren gegen die Einflussnahme von Lobbyisten. Und drittens müssen wir auch neue Instrumente direkter Demokratie schaffen.
Welt Online: Nämlich welche?
Gabriel: Die Bürgerinnen und Bürger müssen mehr direkten Einfluss auf das politische Handeln bekommen. Volksabstimmungen über Gesetze oder Gesetzesvorhaben auf Bundesebene hätten eine heilsame Wirkung auf die Politik. Wenn Politiker wüssten, dass notfalls das Volk noch einmal über ein im Parlament verabschiedetes Gesetz abstimmen kann, würden sie sich viel mehr Mühe bei der Gesetzgebung und bei der öffentlichen Begründung geben. Das würde mehr Ernsthaftigkeit und Substanz in die Politik bringen.
Welt Online: Herr Gabriel, der SPD-Parteitag hat Sie unversehens in die Favoritenrolle für die Kanzlerkandidatur gebracht. Treten Sie gegen Merkel an?
Gabriel: Es gibt keine Favoritenrolle. Wir sind breiter aufgestellt als die Union, bei der sich alles auf die Kanzlerin fixiert. Ich halte weder etwas von One-Woman-Shows noch von One-Man-Shows. Und wer als Kanzlerkandidat oder -kandidatin ins Rennen geht, entscheiden wir Ende 2012, Anfang 2013.
Welt Online: Haben Sie so lange Zeit?
Gabriel: Diese Bundesregierung ist zwar die schlechteste, die wir je hatten - aber sie ist absolut stabil. Denn die FDP hat sich der Union komplett unterworfen. Die Kanzlerin hat keinen Koalitionspartner mehr, sondern eine Partei in Geiselhaft. In der Sekunde, in der die FDP sich den Wünschen der Kanzlerin widersetzen würde, wäre das Dasein der FDP in der Regierung und im Parlament gefährdet. Die Angst davor diszipliniert die FDP und stabilisiert die Regierung.
Welt Online: Und wenn die FDP in Geiselhaft stirbt? Steht die SPD bereit?
Gabriel: Wir helfen im Parlament bei der Stabilisierung des Euro. Aber wenn die Kanzlerin keine Lust mehr auf die FDP hat, muss sie die Wähler fragen - und nicht die SPD. Viel interessanter finde ich allerdings die Frage, was die SPD tun kann, damit der Liberalismus in Deutschland überlebt.
Welt Online: Die SPD als Erbin der FDP? Sie scherzen.
Gabriel: Überhaupt nicht. Der Liberalismus ist doch viel zu wichtig, um ihn mit der FDP sterben zu lassen. Und er ist vor allem etwas ganz anderes als der Schnäppchenjäger-Liberalismus der Westerwelle- und Rösler-FDP. Liberalismus ist eine Geisteshaltung. Sie will aufgeklärte Bürgerinnen und Bürger, die ihr Leben frei gestalten können. Frei von einem übermächtigen Staat ebenso wie von übermächtigen und entfesselten Märkten. Das ist eine große europäische und auch deutsche Tradition, um die sich die SPD kümmern muss. Die SPD muss sich deshalb sozial und liberal aufstellen.
Welt Online: Die Steuererhöhungen, die Sie planen, sind nicht liberal. Sie schränken die Freiheit des Bürgers ein.
Gabriel: Derzeit wird die Freiheit der Bürger eingeschränkt, weil der Staat seinen Aufgaben nicht mehr nachkommt: In der Bildung fehlt es an Geld, die Städte und Kommunen versinken in Schulden, ältere Menschen erhalten keine angemessene Hilfe und Pflege im Alter. Und es werden immer noch zu viele Schulden gemacht, die die Freiheit unserer Kinder und Enkel beschneiden.
Gabriel: Um das zu ändern, muss man zwei Dinge tun: Sparen dort, wo Ausgaben überflüssig sind. Das gilt vor allem bei ökologisch unsinnigen Steuersubventionen. Aber es muss auch darum gehen, die Lasten in unserem Staat wieder fair zu verteilen. Seit Jahren steigt der Anteil am Volkseinkommen bei den Vermögens- und Kapitalbesitzern. Der Anteil der Arbeitnehmer am Volkseinkommen sinkt dramatisch. Das beschneidet auch die Freiheit vieler Menschen in unserem Land. Unter Helmut Kohl lag der Spitzensteuersatz bei 53 Prozent! Wir wollen ihn jetzt auf 49?Prozent bringen – ab 100.000 Euro für einen Single.
Welt Online: Auf Rot-Grün – das zeigen Umfragen – können Sie nicht bauen. Kommt demnächst wieder die Linkspartei als Koalitionspartner ins Spiel?
Gabriel: Nein. Wir haben große Chancen, mit den Grünen eine Mehrheit zu bekommen. Wir werden 2013 einen klaren Richtungswahlkampf führen. Die zentralen Fragen, um die es gehen wird, lauten: Wie stärken wir demokratische Beteiligung? Und wie sorgen wir für soziale Gerechtigkeit? Die Alternative lautet: Rot-Grün oder Schwarz-Gelb. Die Linkspartei ist auf Bundesebene nicht regierungsfähig.
Welt Online: Kommen Sie zu einem anderen Urteil, sobald Dietmar Bartsch die Linke führt?
Gabriel: Sicher nicht. Ganz gleich, ob Bartsch, Lötzsch oder sonst wer an der Spitze steht: Die Linke besteht aus zwei Parteien - aus Pragmatikern im Osten und Sektierern im Westen. Wir haben in Europa eine Lage, in der es darauf ankommt, dass Deutschland stabil regiert wird. Es gilt nicht nur: Wenn der Euro fällt, fällt Europa. Es gilt auch: Wenn Deutschland fällt, fällt Europa. Eine instabile Koalition mit der Linkspartei ist nicht zu verantworten.
Welt Online: Was würde ein Kanzler Gabriel in der Euro-Krise anders machen als Kanzlerin Merkel?
Gabriel: Unabhängig von der Frage, wer Kanzler ist: Die SPD würde auf europäische Fragen nicht mit nationalen Antworten reagieren. Wir brauchen eine Fiskalunion, zu der Haushaltsstabilität gehört, aber auch eine gemeinsame Steuer- und Finanzpolitik. Die europäischen Verträge müssen stärker verändert werden, als das bisher vorgesehen ist. Frau Merkel hat eineinhalb Jahre gezögert, bevor sie auf einen europäischen Weg eingeschwenkt ist - und geht jetzt immer noch nicht weit genug. Der zweite große Fehler der Kanzlerin ist, dass sie nicht über Wachstum redet. Wir werden Europa nicht aus der Krise führen, wenn wir nur sparen. Wir müssen auch investieren, und dafür brauchen wir Geld. Die Finanzmarktsteuer muss kommen.
Welt Online: Zielen Sie auf die Vereinigten Staaten von Europa?
Gabriel: Deutschland muss dazu beitragen, Europa zusammenzuhalten. Unsere Kinder werden uns verfluchen, wenn wir Europa aufgeben. Denn im 21. Jahrhundert werden Chinesen, Inder, Amerikaner nicht 27 Staats- und Regierungschefs Europas nacheinander anrufen, um zu wissen, welche Meinungsvielfalt es in Europa gibt. Entweder Europa spricht mit einer Stimme oder mit keiner Stimme. Es geht um die politische Union, die schon Helmut Kohl gefordert hat, die aber CDU und FDP in den letzten Jahren völlig aufgegeben haben. Wenn wir die Menschen für das europäische Projekt zurückgewinnen wollen, dann müssen wir die Reduktion Europas auf ein Wettbewerbseuropa beenden. Europa muss von einer Konföderation zur Föderation entwickelt werden.
Welt Online: Wer gehört dazu?
Gabriel: Die 17 Staaten der Euro-Zone - und jeder, der sich anschließen will. Es ist unser besonders Interesse, dass Polen noch dazukommt. Wir haben längst das Europa der zwei Geschwindigkeiten.
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Категория: Мои статьи | Добавил: evgenijzhukov (26 Dez. 2011)
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